Geschichte

Von der „Landhaus-Kolonie“ zum Stadtteil

von Dr. Helga Wacker

Wie sah es auf dem Sonnenberg Ende des 19. Jahrhunderts aus? Weit und breit nur Hopfengärten und Baumwiesen, kein einziges Wohnhaus. Entlang des Lau-Feldwegs Nr. 19 (der heutigen Laustraße) stand eine Reihe riesiger Birnbäume. An der alten Straße Degerloch — Möhringen (etwa Ecke Laustraße/Korinnaweg) stand ein Bildstockstein, bis er Ende der dreißiger Jahre Straßenbauarbeiten zum Opfer fiel. Die Weinberge, die schon im 14. Jahrhundert für die Gewanne Domhalde und Sonnenberg und auch noch in einer Oberamtsbeschreibung von 1851 erwähnt wurden, mussten gegen Ende des Jahrhunderts wegen einer Rebkrankheit aufgegeben werden. An ihre Stelle traten Hopfengärten für die Brauerei Widmaier in Möhringen.

1890 legte der Möhringer Baumschulbesitzer Gottlob Schwab den ersten Obstgarten an. Er erprobte eine neue Spalierobstsorte, die sich als erfolgreich erwies, so dass 1900—1902 am Südhang weitere Obstgärten folgten. 1900 erwarben der Mosaikbodenleger Emil Noll an der Abraham-Wolf-Straße und 1902 der Prokurist Carl Stump am Sonnenbühl riesige Grundstücke.

1897 bauten der Lithograf Gottfried Berger und 1900 der Stuttgarter Rechtsanwalt Dr. Schickler Sommer- und Wochenendhäuschen. Dies waren wohl die beiden ersten Hfiuser auf dem Sonnenberg.

1903 errichteten der Rektor Dr. Lutz das Haus Sonnenbühl 40 und Wilhelm Fick, Präzeptor am Eberhard-Ludwigs-Gymnasium, das Haus Sonnenbühl 25. Die Familie Fick erwarb ein riesiges Grundstück von zwei Morgen zu einem Quadratmeter-Preis von 50 Pfennig! Einige dieser Grundstücke sind heute z.T. noch im Familienbesitz.
Im gleichen Jahr erbaute der Gastwirt Friedrich Kieß die „Restauration Sonnenberg“ (heute „Harambe“).

Die kleinen Schmalspurdampflokomotiven der Filderbahn schnauften von Neuhausen und Hohenheim kommend daran vorbei nach Degerloch. Der Sonnenbergwirt bediente die Arbeiter, welche die Filderbahn benutzten und auf ihrem Fußweg zu oder von ihren Arbeitsstätten in der Stadt eine Pause einlegten.

Sonntags kamen auch die Stuttgarter Spaziergänger, die es sich sommers in der Gartenwirtschaft unter Kastanienbäumen wohl sein ließen. Der Sonnenberg war für die Stuttgarter wegen seiner herrlichen Aussichtslage ein lohnendes Ausflugsziel.

Im selben Jahr 1903 gründeten Dr. Lutz und Präzeptor Fick (also die beiden ersten Bewohner!) zusammen mit dem oben erwähnten Baumschulbesitzer Gottlob Schwab den Sonnenberg-Verein. Sie machten sich die Erschließung des Sonnenberggebiets zur Aufgabe. Die Geschichte der Sonnenbergsiedlung ist also zugleich die Geschichte des Sonnenberg-Vereins. Beide lassen sich nicht voneinander trennen.

Die Grunder unseres Vereins warben in Tageszeitungen dafür, dass es noch weitere Mutige wagen möchten, sich in dieser Einsamkeit niederzulassen, und versuchten sich sogar im Dichten! Im Stuttgarter Neuen Tagblatt erschien am 5. September 1903 folgende Anzeige im Stuttgarter Neues Tagblatt Nr. 207 vom 3. September 1903

Aber in den ersten Jahren war der Erfolg dieser Werbung nicht sehr groß. Wohl kamen sonntags die Spaziergänger, um zu schauen, wo sich diese Käuze ein Haus hingestellt hatten. Auch einige Interessenten kamen. Sie brachten jedoch auch ihre Frauen mit. Und als diese erfuhren, dass es noch nicht einmal eine Wasserleitung gab, dass man das Wasser vielmehr am eigenen Brunnen holen musste, dass man noch Petroleumbeleuchtung hatte, wo es doch sonst schon überall Gas oder gar elektrischen Strom gab, und dass man zum Einkaufen eine halbe Stunde über das Feld musste, redeten sie ihren Männern die Idee, hierher zu ziehen, schnell wieder aus. Die frühen Bewohner waren wirkliche Pioniere und schwärmten vom naturnahen Wohnen. Einer von ihnen erinnert sich:

Unvergesslich bleibt mir die Zeit, da dieses liebliche Hochtal von Waldrande unten mit seinen großen Hopfengärten bis zur Ebene oben nur zwei Wohnhäuser und drei Sommerhäuschen in sich barg, die Zeit, in der z.B. ein schöner Sonntag-morgen im Frühling oder Sommer für mich zu einem tiefen, inneren Erlebnis werden konnte. Ringsum überall feierliche Ruhe und Stille, nur die gefiederten Sänger von Feld und Wald zu hören. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne vergoldeten zunächst die Gipfel der Bäume des gegenüberliegenden Haldenwalds, sowie die Höhen um Rohr und Vaihingen, um bald das ganze Tal mit neuem Licht zu überfluten“.

Er fragte sich: „Wie war es möglich, dass ein solch idyllischer Platz, dicht vor den Toren der Hauptstadt gelegen, den Stuttgartern so wenig bekannt geworden war!“

Aber der Alltag war keineswegs eine Idylle. Weniger begeistert waren die Hausfrauen: Die Hausarbeit war beschwerlicher als in der Stadt; die Frauen und Kinder vermissten auch den geselligen Umgang, den sie dort hatten pflegen können. „Die Wegverhältnisse waren in einem Zustand, dass man sich bei Regenwetter oder Schneeschmelze wie auf einer Insel befand, von der man nur in Wasserstiefeln das Festland erreichen konnte“, wie sich Präzeptor Fick ausdrückte.

Die Voraussetzungen für die Entwicklung des Sonnenberggebiets
wurden erst geschaffen, nachdem 1902 der „neue“ Westbahnhof in Degerloch (etwa an der Einmündung der heutigen Albstraße in die B 27) eröffnet, die Strecke Degerloch – Möhringen – Vaihingen elektrisch betrieben und 1904 die Straßenbahnlinie auf der Neuen Weinsteige zunächst eingleisig zwischen Bopser und Degerloch fertiggestellt war und auch die Zahnradbahn elektrisch betrieben wurde.
Der erste Erfolg des neugegründeten winzigen Vereins war, dass eine Bedarfshaltestelle der Filderbahn eingerichtet wurde. Allerdings musste man bei Nacht mit einer Laterne winken, wenn man mitgenommen werden wollte !

Im folgenden Jahrzehnt wuchs die „Landhaus-Kolonie Sonnenberg“, wie sie damals hieß, nur langsam und dehnte sich in Richtung Bahnstation aus.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wohnte ein Dutzend Familien auf dem Sonnenberg. Ende der zwanziger Jahre wurde es auf dem Sonnenberg allmählich zivilisierter: 1909 wurde das Gebiet Sonnenberg an die Filderwasserversorgung angeschlossen. Erst 1925 folgte der Gasanschluss. 1928 wurde die heutige Laustraße vom Schatzweg bis zur Heinestraße gebaut, 1932 wurden Abraham-Wolf-Straße und der östliche Teil der Anna-Peters-Straße chaussiert, nicht etwa voll ausgebaut!

1927 eröffnete Familie Huh den ersten Laden (heute Elektro Lerch). 1951 kam die Bäckerei Brodbeck dazu (heute Backerei Schrade), 1935 ein zweites Lebensmittelgeschäft (Heimerdinger) mit einer später eingerichteten Postnebenstelle und 1937 das Café Rosenberger, aber erst 1939 eine Metzgerei (Metzgerei Geiger).

Nachdem die Gemeinde Möhringen 1930 einen Ortsbauplan für das Sonnenberggebiet erstellt hatte, ging es rasch vorwärts: 1934/35 gab die Gemeinde Möhringen aus ihrem Besitz 55 Bauplätze im sogenannten „Laugut“, dem heutigen Feuerreiterweg und der heutigen Vollandstraße, zu einem Quadratmeterpreis von RM 7,50 bis RM 8,— ab; 1936 wurden in der Kremmlerstraße 30 gemeindeeigene Plätze zum Quadratmeterpreis von RM 8,50 in zehn Monaten verkauft.

Allein in den Jahren 1934-1936 wurden 202 Neubauten erstellt. In den dreißiger Jahren war der Sonnenberg eine einzige Baustelle! Es war damals wirklich ein Problem, morgens mit sauberen Schuhen zur Arbeit zu kommen. Aber man wusste sich zu helfen! Man ließ die schmutzigen Schuhe unter der Bank im Wartehäusle stehen und zog ein Paar schön gewichste aus der Mappe. Abends für den Heimweg holte man sich die schmutzigen wieder.

Es wurde versichert, dass nie ein Paar abhanden gekommen sei! Verpasste man einmal die Filderbahn, blieb nichts anderes übrig, als auf den Schwellen nach Degerloch zu wandern, denn die Züge fuhren anfangs nur alle Stunde, später halbstündlich.

In diesen entscheidenden Jahren gab es für den Sonnenberg-Verein viele große Aufgaben. Schon 1928 hatte sich der Verein ins Vereinsregister eintragen lassen und nennt sich seither „Sonnenberg-Verein e.V.“. 1931 übernahm Friedrich Wacker die Leitung des Vereins, die er bis zu seinem Tod 1968 innehatte. Blättert man die Protokollbücher dieser Jahre durch, so sieht man, was es alles zu tun gab: Bau von Abwasserkanälen, Ausbau von Straßen, Straßenbeleuchtungen – der Sonnenberg-Verein gab einen Zuschuss dazu – und immer wieder bessere Straßenverbindungen nach Degerloch und zur Stadt. Noch immer musste man in Degerloch von der Filderbahn in die Straßenbahn umsteigen und noch einmal bezahlen! So war es ein großer Fortschritt, als 1933 der erste durchgehende Zug der Linie 16 von Feuerbach über Hauptbahnhof nach Degerloch und Möhringen verkehrte und 1954 die elektrische Filderbahn in das Tarifnetz der Stuttgarter Straßenbahn eingegliedert wurde. Der Fahrpreis vom Sonnenberg zum Schlossplatz verbilligte sich von vorher 35 Rpf. auf jetzt 20 Rpf.”

Wie bequem haben wir es da heute: Ungefähr alle 5—10 Minuten bringt uns die Stadtbahn in etwa 12 Minuten in die Stadtmitte. 1935 betrug die Fahrzeit Sonnenberg . Schlossplatz noch 25 Minuten.

Wie rasch die Einwohnerzahl in diesen Jahren wuchs, zeigen folgen- de Zahlen:

191027 Einwohner
1925126 Einwohner
1933494 Einwohner
1935 685 Einwohner
1936962 Einwohner
19371400 Einwohner
19392500 Einwohner
20033611 Einwohner

Bei den ersten Wohnhäusern handelte es sich um villenartige Gebäude inmitten sehr großer Grundstücke.

Schon sehr früh erkannte man die Gefahr einer zu dichten Bebauung: Im September 1935 tritt der Sonnenberg—Verein in einer Ausschusssitzung unter Anwesenheit von Möhringer Gemeinderäten dafür ein, die Ortsbausatzung zu ändem, damit der landhausartige Charakter erhalten bleibe und nicht durch „Massenansiedlungsbauten“ zerstört werde. Durch größere Hausabstände und durch entsprechende Platzpreise solle das „Villenartige“ erhalten bleiben. Im Januar 1934 wurde die Ortsbausatzung dann neu geregelt. So ist der Sonnenberg nach Abschluss der stürmischen Bautätigkeit der dreißiger Jahre ein Wohngebiet geworden, das trotz einer gewissen Einheitlichkeit inmitten groszügiger Gärten Raum für individuelle Gebäudegestaltung lässt, kurz: eine „Gartenstadt“!

Wir können dies, wenn wir durch den Sonnenberg gehen, klar erkennen. Mit dem Anwachsen der Einwohnerzahl änderte sich auch die Bevölkerungsstruktur: Waren die Besitzer der ersten Häuser überwiegend höhere Beamte und Kaufleute, so konnten sich jetzt wegen der niedrigen Bauplatzpreise und der niedrigeren Hypothekenzinsen auch Bauherren mit kleinerem Geldbeutel ein Ein- oder Mehrfamilenhaus leisten. Über die Bautätigkeit auf dem Sonnenberg erschien 1958 sogar eine Dissertation!”

Die stolzen Haus- und Gartenbesitzer hatten grofies Interesse an der Pflege ihrer jungen Gärten. Deshalb organisierte der Sonnenberg-Verein Gartenrundgänge unter der Leitung von Gartenbauinspektor Schaal, verteilte Dünge- und Spritzmittel und verlieh Baumspritzen und sogar ein Leiterwägele.

Nun wurde es immer dringender, dass die überwiegend evangelische Bevölkerung wenigstens einen Gemeindesaal bekam. Hierfür bot sich das Haus Schoettle in der Falkenstraße 8 an. 1955, als Möhringen eine zweite Pfarrstelle bekam, zog Pfarrer Gerhard Fischer mit seiner Familie in das Haus Schoettle ein und betreute von da ab die ev. Sonnenberg-Gemeinde.

Ab 1938 gehörte Möhringen zum Kreis Böblingen.
1942 wurde der Sonnenberg zusammen mit Möhringen nach Stuttgart eingemeindet.

Der Sonnenberg-Verein konnte während des Krieges politisch seine Unabhängigkeit bewahren und beschränkte sich auf Angebote zur Gartenpflege und auf kulturelle Veranstaltungen.
Von 1946 bis 1956 waren sehr viele Häuser für die amerikanische Besatzungsmacht beschlagnahmt.

Ab den sechziger Jahren wandelte sich das Bild unseres Wohngebiets: Die Kremmlerstraße und die Anna-Peters-Straße wurden verlängert und Baulücken geschlossen.
1964 wurde das Altenpflegeheim bezogen, 1966 konnte das eV. Gemeindezentrum eingeweiht werden, und 1976 km noch das Schwimmbad dazu.
Seit mehreren Jahren werden Häuser aus den dreißiger Jahren oder auch ältere abgerissen, um weit größeren Bauten Platz zu machen.

Die sehr hohen Grundstückspreise veranlassen die neuen Bauherren, das Grundstück bis zum Äußersten auszunützen. Wo früher ein stattliches Einfamilienhaus stand, finden heute mehrere Häuser oder Eigentumswohnungen Platz. Im Sonnenbühl und in der Abraham-Wolf-Straße entstanden große Terrassenhäuser. Auch einige Häuser in sehr moderner Architektur sind darunter.

In den letzten Jahren kamen die familienfreundlichen Häuser in der Bodelschwinghstraße dazu.